Ingrid Zimmermann – Rede zur Ausstellungseröffnung Renate Göritz
Stadtmuseum Weilheim, 2004
Was sehen Sie jetzt hier? Verrückt und spinnwebfein aufgetakelte Märchenschiffe, die mit Rädern bestückt und also an die Erde gebunden sind? Mondfähren? Verwunschene Gefährte des Feenkönigs, Spielzeug der Windgöttinnen oder der Wassernymphen? Zartes Linienwerk, das sich, von leisen Lüften emporgehoben, aufmacht in einen blauen Himmel und doch mit gutem Stand auf dieser Erde, verspielte Boten zwischen oben und unten. „Sehnsucht nach flüchtigen Momenten eines fragilen Glücks“ sagt die Künstlerin selbst dazu. Doch ist gleichermaßen das Erdhafte, Schichtungen zu unseren Füßen, da, hergestellt mit handwerklich kundigen Händen, geistig-archäologische Erkundungen der Materie, der Vielfalt ihrer Formen und Farben. Noch einmal also die Polung, jetzt innerhalb der Arbeiten: Himmelwärts und erdwärts. Aber im jeweils anderen stets auch das Gegenteil verkörpernd. Seltsamerweise hatte ich den Begriff „archäologische Erkundungen“ schon niedergeschrieben, als ich Tage später erst das Wort archäologisch in einem Text der Künstlerin fand. Heute abend wird es im Regenbogenstadl in Polling eine Welturaufführung geben, ein Chorwerk, das auf eine völlig ungewöhnliche Weise mit menschlichen Stimmen arbeitet, mit einem Dauerton für jeden Sänger. Titel des Werks: „Daher ist die Welt, obwohl sie weder Sonne noch Mond ist, dennoch in der Sonne Sonne und im Mond Mond“. Es ist ein Satz des Mystikers Nikolaus von Kues aus dem späten Mittelalter und er scheint mir so sehr passend auch für diese Arbeiten. Jedes Element ist es selbst und klingt auf wunderbare Weise mit allen anderen zusammen. So wage ich jetzt eine Zuordnung jenseits der künstlerischen Aspekte: Dies sind Arbeiten moderner Mystik.
Also frage ich natürlich jetzt wieder einmal: Woher steigt Kunst auf? Woher fliegt sie zu? Was sagt sie dem Künstler und was dem Betrachter? Dem muss ich jetzt nachspüren auf Pfaden, die ich in Bezug auf diese Arbeiten betreten habe. lch hoffe, Sie mögen mitgehen. Ich beginne, wie immer, erst mit dem Allgemeinen.
„Niemand steigt zweimal in den gleichen Fluss“. Die meisten von Ihnen werden diesen Spruch kennen. Wieso, dachte ich, als ich ihn zum erstenmal hörte, die Ammer ist die Ammer und die Isar die Isar. Aber dann habe ich nachgedacht: Das Wasser ist ja ein höchst wandelbares Element, jeder Tropfen, ja jedes Molekül und jedes Atom erleben ständig Neues. In jedem Bruchteil einer Sekunde ist der Fluss ein anderer, schon auch ganz handfest: Steine werden geschoben, vom Ufer verabschieden sich ständig winzige Partikel.
Aber eigentlich meint der Spruch den Menschen, seine Körper und seine Seele. Dazu hat ja Goethe schon gesagt: „Die menschliche Seele, wie gleicht sie dem Wasser… „. Transformation, unablässiger Wandel, ist eins der großen Lebensprinzipien auf unserem Planeten und auch im Weltall. Jede dünne Schneeschicht lässt Gletscher wachsen und erhöht den Druck auf die Schichten darunter, jedes tote Tier, geschlachtet, totgebissen oder gestorben, verändert seine Umwelt, und zwar, wenn Sie es sich genau anschauen, materiell wie energetisch.
In Bezug gesetzt zur Ebene der menschlichen Psyche: Niemals begegnen wir demselben Menschen zweimal. Er wird immer ein anderer sein, und wenn es noch so winzige Veränderungen sind, und dies auch wieder materiell und energetisch. Damit verändern sich auch die Erfahrungen und die Entscheidungen. Was spielt alles mit oder redet hinein, bis eine Entscheidung getroffen ist: Kindheitstraumen, Erkenntnisse des Verstandes, in unserem Hirn immer wieder umgemodelt, Sätze, die gehört oder gelesen worden sind, die momentane Stimmung, die wiederum aus tausend Gründen ist wie sie ist. Womöglich eben doch auch das, was wir Schicksal nennen, Bestimmung, der so genannte Zufall, an den ich nicht glaube, also eine hoch lebendige geistige Energie, von der man kaum etwas wissen, die vielleicht einzelne Menschen schauen können. Wie oft mag jeder von ihnen schon gehört oder es selbst formuliert haben: „Da habe ich spontan „ja“ gesagt. Warum weiß ich nicht“. Unter diesem so „spontanen“ Ja steckt jedoch ein unglaublich differenziertes Gefüge und mit diesem Ja wurde erneut die gesamte innere Struktur dieses Gefüges verändert bis in eine niemals mit Sinnen wahrnehmbare Tiefe. „Der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein oder er wird nicht mehr sein“ heißt es. Wir brauchen uns also dieser Gedanken nicht zu schämen.
Das war eine lange Einleitung, aber ich habe sie gebraucht, um aussprechbare Bilder dafür zu finden, aus welcher unvorstellbar vielfältigen Basis heraus Arbeiten wie diese bis zur physischen Existenz gelangen, sichtbar, anfassbar, auf ihrem Untergrund stehend mit einem bestimmten Gewicht und mit einer Aura, die wir wiederum nur mit unserem Unbewussten wahrnehmen. Menschen, und in ihrer Ausprägung als Künstler zumal, sind unbeschreiblich differenzierte Geschöpfe. In seinen Arbeiten drückt der Künstler sein eigenes, viele Dimensionen umfassendes Wesen aus, das Wesen, zu dem er geworden ist durch ständige Transformation, Sekunde auf Sekunde. Als ich vorgestern mit Frau Göritz sprach, kurz nach ihrer Ankunft aus Berlin, wir hatten vorher nur einen kurzen Telefonkontakt gehabt, da sagte sie mir, eine der Arbeiten sei „ihr Leben“. Auch da hatte ich diesen Abschnitt hier schon niedergeschrieben gehabt.
Kurz nur noch hinzugefügt, denn wir hängen ja nicht als Solitäre in Zeit und Raum: Auch der Stand innerhalb der geistigen Evolution des Menschengeschlechts bestimmt, wie Kunst sich zeigt. Heute, in der Epoche der Individuation, ist kein gestalterischer Gesamtrahmen mehr da und der Einzelne darf frei sein, so frei eben, wie sein Inneres es gestattet. Renate Göritz ist ziemlich frei.
Vorhin habe ich gesagt, dass Kunst sich aus unzählbar vielen Ebenen heraus physisch manifestiert. Diese Gebilde sind sichtbar gemachter Ausdruck einer Nanosekunde, so zu sagen der Ordnung eines Gefüges innerhalb einer Nanosekunde. In der nächsten wäre Winziges schon wieder anders gewesen. Der Fluss, in den die Künstlerin hineingestiegen ist, wäre wieder ein anderer. Es ist aber noch viel komplizierter: Die Arbeiten als solche haben ihr Geschichte, etwa ihre Entstehungsgeschichte, Stück für Stück intuitiv zusammengetragen von einer Frau mit hohem handwerklichem Können und einem tiefen Wissen um die Prinzipien von Harmonie und Ästhetik in der Kunst. Dann aber hat jedes einzelne Stück, das darin seinen Platz gefunden hat, wiederum seine Geschichte: Eine Feder ist am Vogel gewachsen, wurde in einer besonderen Situation auf den Boden geweht, ein Mensch trat fast darauf, nur fast. Sie blieb intakt. Frau Göritz hob sie auf und trug sei heim. Oder ein Stückchen Lochblech: Was hat es für eine Fertigungsgeschichte hinter sich und was hat es erlebt, bis es in das Atelier kam? Nun schlüpfen kleine Geisterwesen hindurch, um hinaufzuklettern bis zu einer Mondsichel, die wirklich aus einer Sichel besteht. Der Griff ist noch dran. Dann alle diese Bänder, Schlaufen, Drähte, bizarren Wurzelwesen. Man könnte immer nur schauen und schauen auf diese filigranen Gebilde, die dennoch so fest auf ihrer Basis stehen, die aber wiederum Räder hat, was heißt, sie können ihren Standort verändern. Jetzt sind wir schon wieder bei der Transformation, die uns Menschen eben doch letztlich Angst macht. Wir fürchten, wir könnten verlieren, was uns Halt zu geben verspricht. Angesichts dieser Arbeiten, die in ihrem Ausdruck durch und durch spirituelle Energie im poetischen Kleid sind, könnte man vielleicht lernen auf ein magisches oder ein Engelreich zu vertrauen.
Letztlich das gleiche Prinzip waltet, wenn die Reliefs entstehen. Der arbeitstechnische Ablauf ist allerdings völlig anders. Grundsätzlich ist das Material Papier oder Karton. Jedoch weitgehend in Form von Fundstücken. Es kann also etwas wie ein pappmacheartiger Teich geknetet und in Form gebracht werden. Dieses Material ist bereit, sich transformieren zu lassen und für Renate Göritz ist es, wie sie sagt, „ein ungeheuer spannendes und mich immer wieder überraschendes Spiel, zu sehen, was kommt, etwas wieder auszugraben“. Sie baut also nicht auf wie bei den Feenautos, sondern versucht zu heben, was möglicherweise unter der sich während des Werkens entstehenden Oberfläche zusammengebraut hat. Ihre Seele liest dann darin, beglückt, aber vielleicht auch manchmal melancholisch oder traurig. Die Künstlerin lässt zu und greift doch gleichzeitig ein. Der Pingpong-Ball zwischen Chaos und Ordnung ist mit seinem eigenen Rhythmus unterwegs. Auch dies ist wieder eine Gratwanderung, wobei sich das männliche und das weibliche Prinzip in der Regel die Waage halten. In diesen Reliefs verbinden sich konstruktive Elemente und weiche Elemente. Das ist immer ein sehr wichtiger Prozess, der der Schaffung von Ganzheitlichkeit dient. Von außen hinzugefügt werden dann zum Teil noch winzige Farbigkeiten, die einen Kristallisationskern schaffen oder einen polarisierenden Aspekt hinzufügen.
Vorhin hatte ich gesagt, dass Kunst immer auch vom Stand der geistigen Evolution bestimmt wird. Jetzt möchte ich hinzufügen, dass in den Reliefbildern ein geistiges Element hinzukommt, das mit nachvollziehbarer Geschichte zu tun hat. Bei einer Arbeit muss ich an die berühmte keltische Sonnenscheibe denken, die jüngst ausgegraben wurde, eine andere scheint mir eher ein heraldisches Motiv zu sein, wobei die heraldischen Symbole ja archetypische Ikonogramme sind, die vielleicht über Jahrhunderte sich eine Familie zugeordnet hat. Auch ein Bühnenbild, das eine Geschichte erzählt, habe ich gefunden, eine Assoziation an frühe Kulturen und Totempfähle mag ausgelöst werden. Es gibt eine Arbeit „Verkündigung“. Menschen sind nicht darauf, aber ein Strahlenbündel finden und verstehen wir sofort. Schließlich möchte ich noch auf einen meiner Lieblinge hinweisen, diese Ockerlandschaft, in der so viele sprechende Details zur Erd- und zur Kulturgeschichte enthalten sind. Ich bin sicher, Renate Göritz hat dabei an nichts davon gedacht. Es fiel ihr unter ihren Händen zu.
Ich wünsche mir jetzt, dass Sie als Betrachter auch ein wenig einsteigen und ihre Phantasie beflügeln lassen können. Vielleicht gelingt, was unter anderem auch Kunst auslösen kann: Sie sehen ein Stück aus Ihrem Leben.
Ingrid Zimmermann