Aus meinen zahllosen fiktiven Briefen an einen Kunstfreund.
1 Vor allem aber, lieber Freund, leben wir vordergründig. Der Hintergrund ist schon nicht mehr klar erkennbar. Er verliert sich im Dämmer der Mehrdeutigkeit. Die Vordergründige Welt ist eine Welt der Dinge. Eine Dingwelt. Die führt uns folgerichtig auch in der Welt der Kunst zur Verdinglichung, aus der wir uns immer wieder mühsam – aber doch erfolgreich – zu befreien versuchen. Kunstkenner und -liebhaber betrachten mit fraglos-fragwürdiger Selbstverständlichkeit die Vorbild- und Abbildfunktion der Welt der Dinge und der Welt der Kunst als eine gleichsam gottgegebene Voraussetzung. Jedoch, mein lieber Freund und Widerpart, Du hast es auch schon erfahren müssen: Die Dinge sind nicht nur, was sie sind. Sie bedeuten. Sie deuten auf etwas hin, was über sie hinausgeht. Sie sind Ding und Bild zugleich. In jedem Abbild steckt ein Sinnbild. Dieses Unerklärbare in der Kunst wird oft gar nicht wahrgenommen. Wenn aber doch, führt es mitunter selbst den gutwilligsten Kunstfreund in nicht unerhebliche Verwirrungen. In eine noch tiefere Verunsicherung aber stürzt ihn zuweilen die Erfahrung, daß die unausgesprochene, aber stets angenommene Übereinkunft der Vergleich-und Überprüfbarkeit zwischen Kunst und Leben nicht mehr gilt und auch nicht mehr herzustellen ist. Allzuoft hat uns der schöne Schein vermuteter Übereinstimmung getrogen und genarrt. Es war und ist ein folgenschwerer Irrtum, anzunehmen, Wahrheit und Wirklichkeit seien deckungsgleich.
2 Nein guter Freund, Kunst und didaktische Bemühungen gehen nicht zusammen. Weltanschauung ist nicht gleich Kunstanschauung. Natürlich lassen sich Künstler oft genug aus Dummheit, Eitelkeit oder Berechnung gebrauchen und mißbrauchen, indem sie sich zu ‚Erziehern‘ der Gesellschaft machen lassen. Welch ein Unmaß an Borniertheit und Arroganz verbirgt sich zum Beispiel hinter der Ideologie, aus Künstlern „Ingenieure der menschlichen Seele“ zu machen. Nur sehr geistlose und begrenzte – aber dafür machtbesessene – Hirne können wohl in solch mechanisch-didaktischen Mustern denken. Ach, leicht wird’s dem Künstler nicht gemacht! Neben der ideologischen Verführung und Manipulierung gibt es ja auch noch die mögliche teuflische Verstrickung durch die immer allmächtiger werdende Institution des Kunstmarktes als Jahrmarkt der hochgestylten Eitelkeiten und der verlorenen oder verkauften Träume und Illusionen, wo Kunst zur bloßen Ware degradiert und reduziert wird auf ihren profanen Markt- sprich Geldwert. Aber was willst Du? Künstler müssen auch essen. In ihrer Rolle als nützliche Idioten oder Marktlieferanten schaden sie nicht so sehr der Gesellschaft als sich selbst. Sie verkaufen ihre Seele und werden im Dienste einer übergeordneten Sache oder des Mammons zu Lügnern und Schönfärbern. Wenn sie – hoffentlich! – dafür einmal in die Hölle kommen sollten, wird die schrecklichste Strafe für sie sein, daß sie die Ewigkeit inmitten ihrer selbstgeschaffenen, verlogenen Kreaturen verbringen müssen.
3 Es ist wahr, mein lieber Freund, Lebens- und Kunstwirklichkeit sind zwei sehr verschiedene Wirklichkeiten. Man kann nicht die eine für die andere nehmen. Man darf auch nicht annehmen, daß sich erstere in der zweiten bloß spiegele. Wer Kunst nur für einen Spiegel hält, hat ein sehr eng begrenztes und vordergründiges Verständnis von ihrer Funktion und ihrem Wesen. Lieber Freund, zum Künstler gehörte schon immer der besondere, der andere, der unverwechselbare Blick. Es ist der Blick in jene Hintergründe und Abgründe unseres Seins, die sich meist, wie ich Dir schon bei anderer Gelegenheit schrieb, im Dämmer des Mehrdeutigen verlieren. Wovon ich rede, ist der uneingeschränkt individuelle Blick Er ist ein Augen-Blick der Wahrheit, dieser – manchmal böse, manchmal verklärende, manchmal magische, manchmal barmherzige – Blick in die unergründliche Welt. Wenn ich Welt schreibe, meine ich nicht nur die real-existente Welt der sichtbaren Dinge. Mein Weltbegriff bedeutet mehr, meint nicht nur das stofflich Faßbare. Jeder Mensch trägt sein eigenes persönliches Universum in sich, mit sich herum. Manchmal ist es vielleicht wirklicher (und geradezu qualvoll existent) als jene Welt um und außer uns.

5 Abgesehen von den Erfahrungen selbsterlebter jüngster Geschichte, beobachte ich, daß sich schon seit längerem ein vielleicht einmal vorhandener Konsens zwischen Kunst und Gesellschaft auflöst. Dieser Konsens schwindet in dem Maß, wie jene – ganze Gesellschaften umfassenden und vereinnahmenden – Ideen und geschlossenen Weltbilder verschwinden. Ich bedaure das nicht wie Du, lieber Freund. Für mich ist der Verlust solcher Übereinkunft kein „Verlust der Mitte“. Wie wir aus schlimmer Erfahrung gelernt haben, kann angenehm Verbindliches sehr schnell, und durchaus beabsichtigt, zum dogmatischen Zwang entarten.
6 Lieber Freund, Du bedauerst die allgemein herrschende Orientierungslosigkeit in der Kunst und im Leben. Ich aber begrüße dieses größere Maß an Freiheit und Anarchie. Ich stelle mit Befriedigung fest: Kunst wird freier von Zwängen. Kunst wird immer individueller. Individuen machen Kunst für Individuen. Ich finde, daß diese Entwicklung seit dem frühen Mittelalter durch alle gesellschaftlichen Ordnungen hindurch festzustellen ist. Heute, am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, haben sich die Künste fast grenzenlose Freiräume erobert. Folgt etwa jetzt das Goldene Zeitalter einer emanzipierten Kunst für emanzipierte Bürger in einer emanzipierten oder sich emanzipierenden Gesellschaft? Ach, liebster Freund, wenn es doch so wäre! Doch sehe ich weder dich noch mich auf solch leuchtenden Wegen zu einer vielleicht neuen, freien und selbstbestimmten Übereinkunft. Oh, nein! Ich sehe uns nach wie vor als Einzelne. Meist sind wir Einsame. Fast immer Suchende. Wir sind der tapfere kleine Widerstand gegen den mächtigen Strom verlockender Konsumherrlichkeit und der die Seelen beherrschenden Unterhaltungsindustrie in einer sich formierenden pluralistischen Massengesellschaft. So schön trutzig und selbstbewußt dieser letzte Satz auch klingt, mag ich ihn dennoch – oder gerade deshalb – nicht als Schluß gelten lassen. Wir leben und lebten nie in einer heilen Welt. Deshalb gestaltete und gestaltet sich unsere Arbeit und öffentliche Wirkung als Künstler in einem stets widerspruchsvollen und vieldeutigen Gesellschaftsraum auch höchstwidersprüchlich und vieldeutig. Wir müssen uns hüten, verehrter Freund, das, was uns als Wunschbild, Motto oder innere Rechtfertigung für unser Tun vorschwebt, tatsächlich für die Realität zu nehmen. Die Wahrheit ist, so sehe ich es jedenfalls, daß wir lediglich die Wahl zwischen der Rolle des Narren und des nützlichen Idioten haben. Sagst Du jetzt auch noch: Immerhin?!
7 Ja, mein lieber Freund, ja und nochmals ja. Kunst enthält auch das Wort „künstlich“. Was ist dagegen einzuwenden? Kunst und künstlich gehören zusammen. Damit steht der Begriff Kunst zu Recht im Gegensatz zu den Begriffen Natur und natürlich. Warum auch nicht? Kunst ist ja ein anderes. Versteht man unter Natur das in evolutionären Prozessen allmählich Gewordene, so ist der Widerspruch zur Kunst als etwas bewußt und „künstlich“ Geschaffenes nicht zu leugnen. Kunst ist natürlich nicht Natur. Aber das künstlich und kunstvoll Erfundene muß durchaus kein Surrogat sein, also ein stets unvollkommener Ersatz für das, was es möglicherweise ersetzt. Aber ersetzt es denn überhaupt etwas? Kunst ist kein – wie auch immer gemeinter – Ersatz für Natur. Ein Kunstprodukt kann durchaus einem Naturprodukt entsprechen und als schöpferische Projektion, Abstraktion und Produktion menschlichen Geistes dem Natürlichen gleichwertig und ebenbürtig sein. So gesehen steht Kunst gar nicht außerhalb, sondern mitten in der Natur. Ich denke, lieber Freund, diese Erkenntnis, besser dieses Bekenntnis ist zwischen uns nicht strittig.
Renate Göritz, 1988/89