ein persönlicher Brief der langjährigen Künstlerfreundin Erika Stürmer-Alex (vom 14.1.2021)


Liebe Renate,
ich weiß nicht, ob Du es noch hören wirst, wenn Walter Dir diesen Brief vorliest. Aber indem ich ihn Dir schreibe, denke ich noch intensiver an Dich als sonst in meinem Alltag. Und nun habe ich gestern, bei der Durchsicht alter Aufzeichnungen in meinem Aktenordner, einen Deiner langen Briefe von 1986, November, gefunden. Du hast ihn auf große Seiten eines Soll-und-Haben-Vordruckes geschrieben, mit Deiner schönen, großen Schrift, die mehr Kalligrafie als Schrift ist. Du hattest meine erste große Ausstellung im Rathaus Fürstenwalde gesehen und sagtest mir, wie Du die Arbeiten empfandest, welche Gedanken Dir dazu kamen. Durch das Papier, auf dem Du schreibst, kommst Du zum Reflektieren über Dein Soll und Haben in der Kunstarbeit. „Unser ganzes Leben spielt sich ab im Selbstmessen und Gemessen-werden zwischen Soll und Haben“, so schreibst Du. Ein Abgrund sei zwischen beidem, den zu überwinden unsere tägliche Mühe sei.
Ich habe auch Zeichnungen auf diesem Papier gemacht, aber erst 1990, mit der Absicht, ein Copybuch aus den Zeichnungen zu machen. Wie anders ist meine Reflexion zu der Soll- und Haben-Vorgabe: Ich bin gegen dieses Aufrechnen angegangen mit möglichst heftigen, chaotischen Strich- und Farbhaufen. Weg mit der Buchhalterei, her mit dem Chaos des Lebens! Aber im Leben habe ich jedes Chaos vermieden, und in der Kunst eigentlich auch. Einige Anfälle, aber im Ganzen war mir das „rechte Maß“ das Grundelement (also das apollinische, nicht das dionysische Prinzip). Aber in meiner Art, Gestaltungen zu finden, zu variieren und „unterwegs“ gewissermaßen das Ding aus der Hand zu legen und einer anderen Idee zu folgen – liegt doch etwas Chaotisches. Das hast Du schon damals, 1986, in der Ausstellung gesehen. Mir sei der Weg wichtiger als das Ziel, schreibst Du, und erkennst, dass mich das von Höchstleistungen abhält. Ich fand das schon damals (und auch heute noch) richtig erkannt. Du sahst mich als Zirkusfrau, die Turnkunststückchen macht zur Erheiterung oder Belehrung der Zuschauer. Ein Dompteur, der mit Peitschenknallen die Menagerie der Farben und Formen dressiert, nach seinem Willen zu tun. Wenn ich das heute lese, denke ich: ja, oft zu viel Wollen und weniger laufen lassen der Gefühle, der Phantasie. Ja, ich war oft eine Dompteurin!
Ich erinnere mich nicht, ob Dein Brief mich damals so ins Grübeln brachte wie heute – sicher nicht, ich war zu sehr im Tun. Wir sind so lange nebeneinander her gegangen (so ist mein Gefühl) und haben wohl wenig über Sinn und Wollen unserer Kunstarbeit geredet – mehr über Leben und Religion. Wir haben uns nicht sehr oft leibhaftig gesehen – aber ich hatte immer das Gefühl, ihr seid neben mir (jetzt muss ich auch Walter ins Bild holen). Darum beschäftigt mich sehr (seitdem Du im Hospiz bist), dass Du auf dem Weg bist, von uns zu gehen. Ich denke: hin zu dem Geheimnis, das außerhalb unseres materiellen Seins liegt, schwebt, sich öffnet. Oder auch nicht.
Wir haben oft darüber gesprochen, spekuliert; mehr als über das Kunst-machen. Aber das ist ja auch ein Geheimnis: denn wie und wann der Geist in ein Bildnis kommt, der ja erst macht, dass die Seele der (einiger) Betrachter in Schwingung kommt – steht über den Spielen, die wir mit Farbe und Form betreiben.
Ja, Kunst war für mich oft Spielen, Probieren, als Ziel nur eine Vorstellung von Harmonie oder Erneuerung. Spiel mit Material oder Gedanken.
Aber dringlich die Frage nach Zufall und Bestimmung: Wenn meine Existenz ein Zufall sein sollte, habe ich die Aufgabe (oder Erlaubnis?), diesen Zufall zu bestimmen, ihm einen Inhalt, einen Sinn zu geben! Aber ob das, was meinen Sinn ausmacht, Bestand hat, ist nicht in meiner Macht. Deshalb war das nicht mein Ziel, mein Ziel war näher gesteckt: Kunst sollte Teil meines Lebens sein, und mein Leben sollte nicht zerquält, sondern heiter sein. Anstrengend war es genug durch die tägliche, praktische Arbeit. Ich hatte oft Deine Mahnung im Ohr: mach nicht Bauplastik, vertu deine Zeit nicht mit Handwerk. Aber es war ja auch mein Geldverdienen, und die Figuren kamen im lebendigen, alltäglichen Leben zu stehen, lebten mit den Leben vieler Menschen mit; das gefiel mir. Meine andere Kunst war ja mehr für Spezialisten.
Liebe Renate, Du merkst, dass auch ich mich am Ende meines Lebens fühle. Ich möchte zwar noch immer 100 werden, aber der Körper zeigt nun doch Ermüdungserscheinungen, und dann kommt der Gedanke: es reicht eigentlich. Und dann ist da wieder die Freude auf den Frühling, meinen Einzug in das neue Freiluftatelier – und große Lust, wieder mit Farben zu „schmeißen“. Ja, Renate, Du hattest Recht: es ist nicht der Gedanke an, das Verlangen nach Ewigkeit (auf dieser materiellen Ebene), sondern die Lust am Machen, also am Weg. Da hast Du mich in der Ausstellung 1986 richtig erkannt. Leben und Kunst sind Ausdruck meines sinnlichen Seins. Das heißt nicht vollkommen, nicht logisch, nicht revolutionär – aber hoffentlich etwas Heiterkeit, Gelöstheit in das materielle Sein bringend – ähnlich einem Löwen, der durch einen brennenden Reifen springt. Zirkus eben -.
Liebe Renate, ich bin sehr dankbar, dass ich ein Leben lang Deine Freundin und Kollegin sein durfte. Obwohl wir uns nicht sehr oft sahen, warst Du mir, wie manche anderen Menschen, eine stützende Wand im Rücken.
Und es macht mir viel Trauer, von Dir Abschied nehmen zu müssen. Ich denke an die alten Ägypter – und wünsche Dir guten Weg.
Deine Erika.